| | ehemaliges Hinweisschild für die Leipziger Baumwollspinnerei | |
Noch vor über 100 Jahren war der Westen von Leipzig eine berüchtigte Gegend. Man lebte und arbeitete im Schatten der 1884 gegründeten Baumwollspinnerei, einem gewaltig wachsenden, auf dem internationalen Markt erfolgreichen Industriemoloch im Stadtteil Plagwitz am Rande der sächsischen Metropole. Wer heute hinausfährt zum riesigen Areal aus Backsteinhallen, Schornsteinen und grob befestigten Wegen, interessiert sich in der Regel weniger für die mit einem Hauch Arbeiternostalgie gespickte Geschichte der Baumwollproduktion. Wer seit diesem Wochenende in Plagwitz unterwegs ist, kommt wegen der Kunst. Die Helden der Arbeit sind längst abgezogen.
„From cotton to culture“ heißt das eingängige und marketingtechnisch nicht ungeschickt gewählte Motto auf der Website des umgewandelten Industrieareals. Man setzt jetzt in Plagwitz voll und ganz auf einen Leipziger Exportschlager, der mittlerweile in New York, Seoul oder Moskau einen prominenteren Stellenwert hat als Auerbachs Keller, das Gewandhaus oder der Thomanerchor: Nach Leipzig fahren spätestens seit diesem Wochenende Kunstenthusiasten und Topsammler nur aus einem Grund: Um die Neue Leipziger Malerschule hautnah erleben und erwerben zu können.
Mit einer clever und hochprofessionell vorbereiteten Umzugsaktion der führenden Leipziger Galerien Eigen + Art, Dogenhaus, Kleindienst und Maerzgalerie aus dem zentral gelegenen Musikviertel in die großzügigen Räume der ehemaligen Spinnerei und einer spektakulären gemeinsamen Eröffnung wurden Tausende Kunstfans aus aller Welt nach Leipzig gelockt. Motor und Strippenzieher der Leipziger Szene ist der umtriebige Galerist Gerd Harry Lybke von Eigen + Art, der nicht nur den Superstar und Übervater der Leipziger Maler, Neo Rauch, nach einem undurchschaubaren Wartelistenprinzip in die besten Sammlungen weltweit verkauft.
Neo Rauch war auch einer der ersten, der bereits vor etlichen Jahren sein Atelier in der Baumwollspinnerei bezog. Noch heute ist er hier, und wie vielen anderen der circa 70 Künstler, die ihre Studios auf dem Gelände gefunden haben und sich scherzhaft „Kreative Spinner“ nennen, wird ihm der Rummel und Hype um die international erfolgreichen Malerstars wohl langsam unheimlich. Entspanntes, konzentriertes Arbeiten wird jetzt schwieriger werden, beklagt auch die Absolventin der als Kaderschmiede geltenden Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, Christiane Baumgartner, die den klassischen Holzschnitt mit modernen technischen Medien wie Fotografie und Video kombiniert und bei der Herstellung ihrer Druckplatten den ruhigen Rückzug auf das bisher eher beschauliche Gelände am Rande der neu ausgerufenen Kunstmetropole Leipzig immer sehr geschätzt hatte.
Doch nun wird alles anders. Nicht nur Künstler und Galeristen - international tätige, die sich in neuen Architekturen erproben wollen, und Neugründungen wie die junge ASPN Galerie, die als „Shop-in-the-Shop“ unter das Dach der Dogenhaus Galerie geschlüpft ist - sondern auch Architekturbüros, Werbeagenturen, kleinere Handwerksbetriebe, kreative Werkstätten, ein „Supermarkt“ für Künstlerbedarf und nicht zuletzt das liebenswerte Café Mule mit seinem idyllischen Biergarten sorgen für eine bunte Mischung und Aufbruchstimmung in einem bisher vernachlässigten Stadtteil mit hoher Leerstandsquote. Mit der Eröffnung des Museums der Bildenden Künste in einem ebenso spektakulären wie kontrovers diskutierten Neubau auf dem zentralen Sachsenplatz und der architektonisch wegweisenden Erweiterung der Galerie für zeitgenössische Kunst in unmittelbarer Nachbarschaft der Hochschule rückte Leipzig bereits im November vorigen Jahres ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
Wer jedoch jetzt noch auf den Zug aufspringen wollte und sich im allgemeinen Kaufrausch in den Leipziger Galerien nach den viel beschworenen Gemälden der Neuen Leipziger Malerschule umsah, wird sich am Wochenende die Augen gerieben haben. Eigen + Art eröffnete kühn mit einer Einzelausstellung der eher sperrigen Birgit Brenner, die in Skulpturen, Fotos, Installationen und Texten psychisch aufgeladene, menschliche Dramen anreißt. Unter der Hand wird in Leipzig ohnehin bereits der Trend zur Skulptur verkündet. Arme Maler! Die in Busladungen über Leipzig eingefallenen belgischen Pralinefabrikanten und südkoreanischen Industriemagnate sind am Sonntag alle wieder abgereist. Und auch die Learjets betuchter Sammler, die gleich dutzendweise eingeschwebt waren, sind längst wieder gestartet. Die erste rauschende Party ist erst einmal beendet. Jetzt beginnt der Alltag auf einem Kunstareal, das den Ehrgeiz hat, neben New York, Berlin und London zu einem der internationalen Hot Spots der Kunstszene zu werden.
Weitere Informationen zum Kunstareal unter www.baumwollspinnerei.com. Der Katalog „Spinnerei“ mit Informationen und Abbildungen zur Umwandlung des Industrieareals ist für 8 Euro in der Spinnerei-Galerie auf dem Gelände erhältlich.
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