"Pulsschlag, farbiger als das Blut"
Der Fleck ist die elementare Keimzelle des Malerischen.
Er steht am Anfang der Malerei, wie der Einzeller am Anfang des Lebens steht. Er kennzeichnet aber auch Spätstile, in denen alle Verästelungen der Semantik wieder ins "kühne Wesen des Farbflecks" (Theodor Hetzer über Tizian) zurückkehren. Er ist ein bildnerischer Archetyp vor aller Bedeutung, Illusion, Komposition.
Schon Horaz unterscheidet in seiner ars poetica zwischen der nahsichtigen, glatten Feinmalerei der Augentäuscher und einer Ästhetik des Fernsichtigen "Rauhen", wo der einzelne Pinselstrich sichtbar bleibt und zum Farbimpuls wird. Kunsthistoriker konstruierten daraus immer wieder einen zeichnerischen und einen malerischen, einen klassizistischen und einen barocken, einen florentinischen und einen venezianischen Weg. Bei den Impressionisten ersetzt das farbige Komma, die touche, vollends die Kontur. Mit dem Schlagwort "Befreiung der Farbe" mündet der Strang dann in die Moderne ein.
Hermann-Josef Kuhna radikalisiert die zweite Möglichkeit- und weicht von ihr ab. Bis hoch in die 80er Jahre verbindet er das Fleckengewimmel seiner Leinwände mit Ornamentalem, Symbolischem, Metaphorischem, Persiflierendem, Panerotischem: kein Purist des malerischen Primäraktes, eher ein eigensinniger Grenzgänger zwischen Surrealismus und einem energetisch aufgeladenen tachistischen Sonderweg.
Zunächst schart er den Fleck noch zu klar umrissenen Tropfen, zu Strömen, die der Fläche Richtungsreichtum und Muster geben. Das Figur-Grund-Verhältnis ist noch intakt, wenngleich ständig von der Überflutung bedroht. Ein heiterer Vitalismus, Biomorphismus, ein wimmeln des Ballett der Einzeller, die sich wie florale Teppiche ausbreiten. Pattern Art, bevor dies als Begriff und Mode aufkommt, ohne sich je darin zu erschöpfen.
Ende der 70er Jahre dann der entscheidende Durchbruch. Der Fond gerät in Bewegung, drängt aus der Tiefe ins Bildgewebe, verflicht sich zu einer patzigen Fleckenmalerei. Wichtig ist, dass der Fleck farbig bleibt. Anders verstummt seine Rufkraft. Nur die Farbe sucht farbige Antworten, sucht Ab- und Zustimmung oder komplementären Kontrast. Kuhnas Farbe bleibt flach und ohne pastoses Profil der Pinselspur. Die stufenweise Trocknung bewahrt allen Farben ihre ungebrochene Leuchtkraft. Nur so wirken sie pur, unverwaschen und unvermischt. Der Auftrag in Partikeln steigert diesen nackten Kolorismus zu gleißender Härte oder einem sonoren Lyrismus, immer ohne weiche Abtönung, ohne Schattenhülle und Reflexe. Nur der helle oder dunkle Buntwert spricht.
Seit den 80er Jahren dringen schiere Fleckenbilder durch. Sie wirken gegenüber der verspielten Phase wie ein Befreiungsakt ins Absolute. Zwar sind auch die neuen Bilder nicht eigentlich malerisch (im Sinne von Wölfflin). Sie verzichten auf Finessen und Subtilitäten der peinture, auf sanfte Umhüllung in Licht und Schatten. Ihnen fehlt ebenso die körperliche Materialisierung der Farbe als Substanz und Relief. Die langgezogenen, bogigen oder geballten Pinselspuren sind ohne ecriture, ohne Faktur. Ohne Übergänge und Grauschleier, ohne gestische Expressivität.
Die Flecken können sich runden, biegen, tropfenförmig zuspitzen oder in die Länge ziehen. Sie können Punkt, Tupfer, Klecks, Häkchen, Splitter, Steg, Triangel sein. Alle Formen und Verläufe kommunizieren, verflechten, verweben sich -ohne einander zu stören oder gar zu verwischen. Sie strömen und wuchern zusammen, überwinden die klassische Zweiteilung von Figur und Grund und überführen sie in eine unlösliche Textur. Nach dem Fleck also die Textur! Jedes Bild erwächst aus Lagen, aus Arbeitsgängen farbiger Fleckenmalerei. Eine erste Farbe verlangt nach einer Reaktion, eine zweite folgt, eine dritte...
Jede Lage muss trocknen, bevor der nächste Durchgang die Verdichtung weitertreibt. Nichts darf verschmieren oder zusammenfließen. Kuhna arbeitet, wie er selbst sagt, die Leinwand "vollkommen ab" -nicht aus einem erstickenden horror vacui, sondern, im Gegenteil, um Lebensraum für farbige Mikroorganismen zu schaffen. Einen wimmelnden Verband, der wie ein intaktes biologisches System ausbalanciert ist. Ästhetisch gesehen erscheint die Bildfläche als ein fluktuierendes Equilibrium, in das Strömen und Stauen, Stoßen und Stocken, Drängeln und Driften eingeflossen sind. Zentrifugale Energien ziehen Partikel wie Magnetfelder in ihren Sog und kreisen um ihren Kern. Unser Auge gerät in wirbelnde Rotationen: ein kinetisches Pulsieren, das (anders als in der Op Art) keiner trägen Netzhaut, sondern verschlungenen Unterströmungen im Fleckendschungel folgt. Längeres Hinsehen verführt zum Delirieren, doch letztlich verweigert sich Kuhnas strikt bildnerisches Konzept jeder Selbstentäußerung. Auch die lebhafteste Dynamik bettet sich in harmonische Ausgewogenheit.
Manchmal verdichtet eine Farbe sich durch Zusammenziehung zu lesbaren Figuren. Einem Herz oder einer sanft modellierten Rundung, hinter der, hören wir auf Kuhna, die Anmutung eines Dekolletes steht. Kuhna inspiriert sich beim Malen auch an Assoziationen, latenten Erregungen, Stimmungen, Vorstellungen, oft erotischer, oft landschaftlicher, oft musikalischer Art. Sie bestimmen das farbige Klima, anatomische Annäherungen, sinnliche Kurven, einer Rückenkontur. Man darf das hineinlesen. Zur Lesbarkeit eines Vexierbildes, zur Absicht eines Motives konkretisiert es sich jedoch nicht, schwebt aber als kaum sichtbare Aura in jedem Bild. Auch die Titel erinnern, poetisch umschrieben, an den vage bleibenden Anlass. Kuhnas Farbe baut Spannweiten auf, die überbrückt sein wollen. Hier liegt das eigentlich ästhetische movens für diese Malerei, die auf einer immensen Kenntnis und Erfahrung im Umgang mit Farben beruht. Die Farbe und nur die Farbe beherrscht die Malerei. Um sie von Nebenaufgaben, Licht, Schatten, Linie freizustellen, verzichtet er sogar auf Finessen und Subtilitäten der peinture.
Doch die Intensität direkt aus der Tube oder von der Palette ist nur das Eine. Maßgeblich wird das Zusammenspiel: koloristische Synergieeffekte, bis hin zu konfettiartiger Buntheit oder juwelenhatter Brillanz. Kuhna ist ein Meister sorgsamer Nachbarschatten, Interaktionen und Resonanzen. Jede Farbe führt, wie Ursula Mildner schreibt, einen Diskurs mit sich selbst. Gewiss wendet Kuhna das nicht analytisch an, doch der Farbsystematiker Albers steht näher als der Augenschein glauben macht. Dabei ist keine Farbe geringer als die andere. "Schlechte" Farben kennt Kuhna nicht. "Orange" wertet im Zusammenklang einen beigen Grundton zu kostbarem Brokat auf. "Weekend" vitalisiert ein feierlich müdes Rotblau durch kleinteilig eingesprengtes Gelb und bringt es zum Funkeln. Neuerdings erkundet Kuhna Möglichkeiten nahe beim WeiB. Wie viel Farbe erträgt WeiB, um dennoch nicht bunt zu erscheinen? Wie viel WeiB darf sein, damit die Farben nicht ausgelöscht werden? Ein ähnliches Problem trieb den Impressionisten Sisley um, als er im Schneekristall die Spektralfarben entdeckte. Bel Kuhna hat die Recherche allerdings keinen physikalischen Hintergrund.
Er kennt die verschiedenen Farbtheorien und -lehren, setzt sie aber nicht um. Höchstens, dass er sie praktiziert. Er bleibt bei seiner Motivation des Assoziierens und Erinnnerns. Ein WeiB dominiertes Bild heißt "Blanchisserie", ein anderes, das er mit einem Dekollete verbindet "Woge".
Gleichzeitig setzen die Farben wechselnde Tempi in Gang. Orange, Karminrot, Violett changieren in kurzen Sprüngen und binden die Farbbewegung an kurze Takte. Komplementäres Rot und Grün erzeugen einen gemessenen, stabilen Akkord. Auch Thermik und Gravitation spielen herein. Vorherrschende Rotpartikel heizen auf. Sie beschweren warm absinkende Zonen. Blaupartikel kühlen ab und steigen hoch. Warme und kalte Farben stecken zusammen eine flache Raumbühne für die stereoskopisch flirrende Choreografie der Flecken ab. Ein sich Reiben, Entzünden, Pulsieren bis in die Ecken! Es wäre ein Thema für sich, die Wechselwirkung von Farbbewegung und Fleckenrhythmus, Farbklima und Farbraum zu beschreiben. Etwas Eigenartiges geschieht. Obgleich diese jüngeren Bilder ohne alle Zeichen und Symbole sind, obgleich alles Psychografische in der Textur aufgeht, strahlt jede Leinwand ihre eigene Stimmung aus: grelle Aktion, florale Pracht, melancholische Dämmerung. Denn Kuhnas recherche des couleurs bringt gerade keine Farbexerzitien hervor. Sie ist erlebnisgesättigt, subjektiv, ja expressiv, wenn wir darunter keine ausfahrende Gestik verstehen, sondern die leidenschaftliche, manische Aktivierung der Farbe auf ihrem kleinsten Nenner: dem Fleck. Gewiss wäre es viel zu flach, in dem Gewimmel auch Spermatreiben zu notieren, doch bedarf es keiner großen Freudschen Verrenkungen, um die heimliche Lust, die nicht nur eine Lust des Maiens ist, zu spüren. Die offenkundige Sinnlichkeit älterer Bilder hat keineswegs abgedankt. Sie kehrt nur ins Plasma der malerischen Urzeugung aus dem farbigen Fleck zurück.
Manfred Schneckenburger
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