
Es ist dieses Ungewisse, das eine präzise Form annimmt. Eine Form, die sich obszön ankündigt, haptisch erfasst werden will. Anke Röhrscheids dunkeltonige Aquarelle provozieren eine geradezu orale Wahrnehmung. Eine Zungenwahrnehmung, mit geschlossenen Augen, welche das innere Auge wandern lässt. Das innere Auge sieht und fühlt zugleich, folgt der Partitur der Künstlerin. Gesehenes verlagert sich in Körperwahrnehmung. Man könnte von einem vouyeuristischen Moment sprechen. Aber wie beim Gesang der Sirernen ziehen einen die Bilder in den Abgrund. Der Abgrund ist Erfüllung. Man taucht immer wieder auf, um verschlungen zu werden. Eine meditative Obsession, der man sich hingibt.
Vor dem inneren Auge verändern sich die Formen. Sie umschmiegen, verstören einen. Sie könnten gefährlich werden, aber sie wissen um das Spiel der Verführung. Eine Verführung, die nicht nachlässt, sich stets von neuem generiert. Taucht man aus dem Abgrund auf, gleicht der Weg ins Ungewisse einer Sucht. Anke Röhrscheid qualifiziert Verführung als Wunsch der Bilder gesehen und geliebt zu werden. Alle Bilder wollen früher oder später geliebt werden (wie auch immer sie sich darstellen). Sie werden zu Ikonen oder Hetären. Die Ikonen halten auf Abstand. Sie dienen der reinen Anschauung. Die Hetären schaffen und formen das Bewusstsein des Körpers. Sie dringen in die Poren. Da sie verführen und schön sind, wollen sie auch immer wieder gesehen werden. - Anke Röhrscheids Bilder sind Hetären. Sie verkörpern Sinnlichkeit: weiche, verschwiegene, verschlungene, sich öffnende, beobachtende Sinnlichkeit.
Merkwürdig ist, wie im Gerinnen der Zeit aus dem Verführungspotenzial ihrer Bilder Ikonen werden. Es ist die erlebte Intensität, die zu uns spricht. Sie lässt uns nicht aus den Augen. Ein Blick, den man nicht vergisst.
Jean-Christophe Ammann
|