Losnummer: 82
Die künstlerischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts hatten mit wachem Auge nicht nur die Kunst und Kultur fremder Völker und Ethnien entdeckt, sondern in ihrer Haltung dazu auch eine selbstbewusste revolutionäre Geste entworfen, die alle bislang tradierten Formen und Ideale, die das europäische Bildungsbürgertum und die Gesellschaft prägten und die sakrosankt erschienen, in Frage stellte. Emil Noldes erweitertes Interesse für urtümliche, ferne wie exotisch anmutende künstlerische Artefakte, die er in den Berliner Museen zeichnerisch sich erarbeitete und später auch persönlich sammeln sollte, war schon vor 1900 geweckt worden:
"Als etwas Besonderes, wie eine Mystik, stand vor mir die Kunst der Ägypter und Assyrer. Ich konnte sie nicht, wie damals fast allgemein, als 'geschichtliche' Objekte nur werten, ich liebte diese großen Werke, wenn auch es war, als ob ich es nicht dürfte. Aber solche Liebe manchmal brennt am glühendsten. - Das folgende Jahrzehnt brachte Einsicht und Befreiung; ich lernte die indische, chinesische, die persische Kunst kennen, die primitiven seltsamen Erzeugnisse der Mexikaner und die der Urvölker. Diese waren mir nicht nur 'Kuriositäten', wie die Zünftigen sie benannten, nein, wir erhoben sie zu dem, was sie sind: die seltsame, herbe Volks- und Urkunst der Naturvölker." (Emil Nolde, zit. nach: Karsten Müller, op. cit., S. 66).
Die 1913/1914 durch den Ausbruch des I. Weltkrieges unterbrochene Reise von Ada und Emil Nolde als Teilnehmer der "Medizinisch-demographischen Deutsch-Neuguinea-Expedition" vertiefte bekanntlich nachhaltig die schon früher gewonnenen Eindrücke und die damals durchaus kritischen Überzeugungen des Künstlers. Nolde begann fremde Objekte der Weltkunst in seiner Malerei dezidiert und nachhaltig herauszustellen und auf seine Weise zum Leben zu erwecken. Die Interpretation erfolgte nicht durch Überformung, Neuausprägung und Stilwandel sondern durch Aneignung und Integration in die eigenen Bildwelten. Er pflegte dann in seinen Kompositionen sehr gerne einen frontalen, dualen Aufbau, wie auch in diesem Aquarell, wo er eine kleine archaische Reiterfigur aus Ton (wahrscheinlich zypriotisch, aus dem 1. Jahrtausend v. Ch. und aus seiner Sammlung) einer tropisch blühenden Pflanze zugesellt. Die auf diese Weise subtil erzielte Belebung und gegenseitige Steigerung der Bildgegenstände, deren Charakter unverfälscht und direkt wiedergegeben wird, erfolgt auf einer rein künstlerisch empfundenen Ebene, die Heterogenes harmonisch zusammenzuziehen versteht. Und dies geschah in Noldes Oeuvre in immer neuen Bildvarianten und auf eine formal interessante wie expressive Weise.
Zertifikat
Zu diesem Werk kann eine Foto-Expertise von Manfred Reuther, Risum-Lindholm, erteilt werden.
Provenienz
Ehemals Sammlung Richard König, Duisburg; seitdem Familienbesitz, Rheinland
Literaturhinweise
Karsten Müller (Hg.), Emil Nolde. Puppen, Masken und Idole, Katalogbuch zur Ausstellung im Ernst Barlach Haus, Stiftung Hermann F. Reemtsma, Hamburg/ Stiftung Ahlers Pro Arte/Kestner Pro Arte, Hannover/ Nolde Stiftung Seebüll, Dependance, Berlin, 2012/2013, vgl. S. 74 mit Farbabb. der Reitertonfigur aus der Sammlung des Künstlers
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