Losnummer: 556
Eine besondere Rolle in August Sanders Werk spielen seine Künstlerportraits. Sander präsentiert sie in seinen „Menschen des 20. Jahrhunderts“ als eigene Berufsgruppe (Gruppe V – „Die Künstler“), was bemerkenswert ist, fasst er doch alle anderen Berufsgruppen unter dem Begriff „Die Stände“ in Gruppe IV zusammen. Schon allein zahlenmäßig macht die Gruppe der Künstlerportraits einen Schwerpunkt in Sanders Werkes aus, aber auch privat waren sie für ihn bedeutend: Zahlreiche bildende Künstler, die Sander im Laufe der zwanziger Jahre portraitierte darunter Franz Wilhelm Seiwert, Heinrich Hoerle, Jankel Adler, Otto Dix und Anton Räderscheidt, zählten zu seinen Freunden oder gehörten zumindest seinem Bekanntenkreis an. Interessant ist, dass Sander das hier vorliegende Künstler-Doppelportrait von Anton Räderscheidt und seiner Frau Marta Hegemann nicht in besagte Gruppe V („Die Künstler“) aufnahm, sondern es der Gruppe III („Die Frau“) zuordnete, neben Doppelportraits der Paare Tata [Martha] und Heinrich Hoerle sowie Martha und Otto Dix. Hegemann - seit 1918 mit Anton Räderscheidt verheiratet - war selbst Grafikerin und Malerin aus dem Dada-Umkreis. Ihr wies Sander keinen eigenen Künstlerstatus zu, sondern zeigte sie in ihrer Rolle als Ehefrau, gleichwohl unter dem Titel „Malerehepaar“, was verdeutlicht, dass er ihre Künstlerrolle durchaus anerkannte.
Sander zeigt die beiden Dargestellten mit ernstem Gesichtsausdruck, die Augen nicht auf ihn, sondern auf einen Blickpunkt rechts neben dem Objektiv gerichtet. Mit ihren hochgeschlossenen Mänteln erscheinen die beiden distanziert, beinahe wie Personen auf der Durchreise. Es ist ein unkonventionelles Paarportrait, zeigt es doch keinerlei Zuwendung der Eheleute zueinander in ihrer Haltung. Die Hand des Künstlers auf der Schulter seiner Frau ist das einzige Zeugnis ihrer Intimität. Die Aufnahme unterscheidet sich auch in weiteren Merkmalen von den üblichen Atelieraufnahmen Sanders, die die Dargestellten meist sitzend, im Halbportrait und mit normaler Kleidung zeigen und nicht wie hier, stehend und in Straßenkleidung; auch von Hegemann/Räderscheidt gibt es solche „konventionellen“ Doppelportraits ohne Mantel und Hut. Dass es sich dennoch um eine Atelieraufnahme handelt, offenbart erst der hier vorliegende, spätere Abzug vom Originalnegativ. Die ursprüngliche Ausschnittsvariante, die Sander für seine „Menschen des 20. Jahrhunderts“ auswählte, ist enger an den Personen beschnitten und zeigt diese vor einem einheitlich neutralen Bildhintergrund.
Anton Räderscheidt erinnert auf dieser Aufnahme mit seiner schmalen Statur, im Mantel, mit Fliege und hoher Melone an jenes berühmte Einzelportrait, das Sander von ihm frühmorgens auf der menschenleeren Bismarckstraße aufgenommen hat, im Typus des modernen Großstadtmenschen. Bewusst scheint sich Sander auch bei dem hier vorliegenden Doppelportrait für die „Menschen des 20. Jahrhunderts“ für eine dem oben genannten Portrait entsprechende Variante entschieden zu haben, die den kosmopolitischen Charakter der dargestellten Künstler betont und die Individualität ihrer Persönlichkeit unterstreicht.
Provenienz
Privatbesitz, Paris
Literaturhinweise
Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln (Hg.), Zeitgenossen. August Sander und die Kunstszene der 20er Jahre im Rheinland, Ausst.kat. Josef-Haubrich-Kunsthalle Köln u.a., Göttingen 2000, S. 92 mit Abb.; Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln (Hg.), August Sander. Menschen des 20. Jahrhunderts, Bd. 3: Die Frau, München u.a. 2002, S. 47 mit Abb. (jeweils Ausschnittvariante, hier betitelt: Malerehepaar [Anton Räderscheid und Marta Hegemann])
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