| | Dirk Boll: „Was ist diesmal anders? Wirtschaftskrisen und die neuen Kunstmärkte“ | |
Dem Kunsthandel stockte für einen kurzen Moment der Atem, als im März letzten Jahres ein Virus das Rad zum Stillstand brachte. Keine Kundenkontakte, keine Messen, geschlossene Galerien. Krisen haben auf dem Kunstmarkt stets zu neuen Strategien geführt, aber die tiefgreifende Wucht von Covid-19 ist mit nichts zu vergleichen, meint der Marktinsider Dirk Boll in seiner aufschlussreichen Analyse „Was ist diesmal anders. Wirtschaftskrisen und die neuen Kunstmärkte“. Bolls Fazit: „Die Pandemie führt zu einem fundamentalen Umbruch etablierter Verhältnisse.“ Das Internet wird über Nacht zur Alternative für Anbieter und Käufer. Das Virus pusht in nie geahnter Dringlichkeit die digitale Weiterentwicklung in der als konservativ geltenden Branche. Für Dirk Boll ist der Wandel epochal: „Dies ist eine neue Welt. Für alle, die sich mit Kunst befassen.“ Und er ist unumkehrbar.
Eine bessere Publikation über den digitalen Turboschub des Kunstmarktes in Pandemiezeiten ist derzeit nicht auf dem Markt. Nachdem Dirk Boll die Krisen von 1990, 2001 und 2009 in Bezug zur Globalisierung, Finanzkrise und Entwicklung neuer Wirtschaftszweige wie der Tech-Branche gesetzt hat, charakterisiert er die Corona-Krise 2020 als eine Störung der Distributionswege und veranschaulicht den Wirtschaftsdruck hinter den Kulissen. Zahlreiche Online Only-Auktionen in Zeiten der Kontaktverbote plötzlich zu bestücken, war eine kreative Herausforderung. Zurückgegriffen werden konnte nur auf Einlieferer, die als verlässlich galten. Christie’s zum Beispiel realisierte die Auktion „Handpicked: 100 Artists selected by the Saatchi Gallery“. Es handelte sich um aufstrebende Künstler, die internetaffine junge Sammler ansprachen. Die Preise bewegten sich auf einem Level, der online akzeptiert wurde. Und Charles Saatchi, der Großsammler, Galerist und ehemalige Werbe-Guru, verpasste dem Ganzen einen wirkungsvollen Markenstempel.
Boll betrachtet den Markt wie ein Manager, und das erhellt manche Zusammenhänge. Die Zeichen einer sich anbahnende Krise waren für ihn schon 2019 sichtbar. Die Notwendigkeit kluger digitaler Geschäftsmodelle existierte schon vor Corona, die Pandemie gestattete nun einfach keinen Aufschub mehr. Die neuen Märkte in Asien hatten sich auf ein bestimmtes Level eingependelt. Die hohen Kosten des Kunstmarktes standen bereits 2019 einem weltweit um 5 Prozent geschrumpften Umsatzvolumen gegenüber. Boll spricht von einem „small margin business“. Der Zwang zum Umdenken war existenziell. Die dichter getakteten Online Only-Auktionen etwa waren nicht nur Notlösung für die ausgefallenen Saalauktionen, die turnusmäßig zwei Höhepunkte im Jahr evozierten. Mit permanenten Internetversteigerungen bekam der Cash Flow Kontinuität. Ein weiterer Vorteil: Die „kritische Menge an Objekten, damit sich der ganze Aufwand“ einer Saalauktion lohnt, war nicht mehr erforderlich, so Boll. Ein Motto, ein Thema und zehn, fünfzehn Objekte reichen für Online Only-Auktionen aus.
Als erfahrener Marktbeobachter hat der Autor nicht nur Corona im Blick. Aufschlussreich sind seine Exkurse über die Wirtschaftskapitäne, die den Kunstmarkt als eine Geld- und Imagemaschinerie betrachten. Dass François Pinault sein Luxusimperium mit Firmen wie Yves Saint Laurent und Puma 1998 mit dem Erwerb von Christie’s erweiterte, ist bekannt. Neu auf diesem Spielfeld ist der Chinese Chen Dongsheng. 1993 gründete er China Guardian Auctions, eines der größten privaten Auktionshäuser Chinas. Zwei Jahrzehnte später träumte er von einer Fusion mit Sotheby’s, um mithilfe der Europäer zeitgenössische Kunst aller Erdteile in China zu verkaufen. Sein Aktiensanteil am anglo-amerikanischen Traditionshaus betrug 2016 exakt 13,5 Prozent. Einen Strich durch die Rechnung machte ihm der Franzose Patrick Drahi, der vor zwei Jahren die Mehrheit bei Sotheby’s übernahm.
Die Digitalisierung wird den Kunstmarkt und die Beziehung ihrer Mitspieler untereinander verändern, ist eine der wichtigsten Thesen des Buches. Vor einem Jahr hatten Messen keinen Zweifel an ihrer Funktion als vier- oder fünftägiger, physischer Treffpunkt für Handel und Sammler. Jetzt betreiben sie mit Online Viewing Rooms, Artist Talks und Expertenkonferenzen permanent Geschmacksbildung, Branding und verhandeln die Bedeutungshierarchie neu. Das Selbstverständnis wandelt sich vom Messeausrichter zum Trendsetter. Seit neuestem lässt sich die Art Basel den Service der Viewing Rooms bezahlen, schreibt Dirk Boll. Viele Megagalerien könnten sich von den Portalen lösen. Sie präsentieren schon seit Jahren auf ihren Websites eigene Viewing Rooms. Bolls Folgerung verblüfft: Die immer stärkere Vermittlung und Rezeption im virtuellen Raum drängen die Bedeutung eines prominenten Galeriestandortes in den Hintergrund. Die Imagefunktion einer Nobeladresse übernimmt die Platzierung auf einer bestimmten Messewebsite. Die Etablierung von globalen Galerieketten, wie etwa Gagosian oder Hauser & Wirth, ist für ihn eine Idee prädigitaler Zeit.
Und auch Kunsthandel und Auktionshäuser warfen ihre Berührungsängste über Bord. Die Biennale in Paris und Christie’s kamen überein, die ausgefallene Messe via Christie’s-Portal digital zu realisieren. Dass die Aktion ein Flop war, verschweigt der Christie’s-CEO elegant. Sotheby’s bereitete derweil einen ganz anderen Coup vor. Am 29. Juni lief der Evening Sale mit ausgewählten Millionen-Werken ohne Saalpublikum wie eine große TV-Show, die nur am Bildschirm zu erleben war. Auktionator Oliver Barker schwang den Hammer vor drei Monitoren, auf denen aus Hongkong, New York und London die Überbringer telefonischer Gebote zugeschaltet wurden. „Eine Revolution“, schrieb Sotheby’s.
„Tiefgreifend, global, aber nicht annähernd so vermögenszersetzend wie die Finanzkrise 2008/09“ und „gefolgt von einem raschen zügigen Turbo-Aufschwung“ – so charakterisiert Dirk Boll die ökonomische Seite der Pandemie. Das Urteil fällte er vor dem zweiten Lockdown, das Buch entstand im Herbst. Doch auch wenn er die für Messen und Galeristen quälende Entwicklung damals nicht vorhersehen konnte, sind seine Thesen und Fakten ein überzeugendes Szenario der immer stärkeren Digitalisierung des Marktes. Ein Zeichen für diesen Trend sieht er in der Bereitschaft der Käufer, für Online Only-Angebote inzwischen höhere Summen auszugeben. Bislang haben die Auktionsakteure die Kundschaft unterschätzt und übersehen, dass die Millennials zu den Digital Natives zählen. Sie machen bereits 50 Prozent der Käufer aus, die mehr als 1 Million Dollar im Jahr für Kunst ausgeben.
Sammler und Investoren aber interessiert, welche Kunst demnächst an Wert verlieren und was preislich anziehen wird. Da bleibt der Manager zurückhaltend. Seine Prophezeiung ist, dass die Käufer vorsichtiger agieren werden. Sehr bedeckt hält er sich mit seiner Aussage: „Im 21. Jahrhundert wird vor allem die Kunst des 20. Jahrhunderts gekauft.“ Dirk Boll ist sich sicher, dass Versteigern via Internet wird auf lange Sicht nur funktionieren wird, wenn die Online-Aktivitäten den gleichen Eventcharme haben wie die Saalauktionen. Sotheby’s hat es Ende Januar bei der Versteigerung des Botticelli-Jünglings für brutto 92,2 Millionen Dollar erneut vorgemacht. Mit rasanten Kamerafahrten und schnellen Schnitten von Telefonassistent zu Telefonassistentin switchte die Auktion zwischen New York und London hin und her. Mehr als 600.000 Mal wurde der Live-Stream angeklickt. Schöne neue digitale Welt.
Dirk Boll: „Was ist diesmal anders? Wirtschaftskrisen und die neuen Kunstmärkte“
Hatje Cantz Verlag, Berlin, 2020
256 Seiten, 6 Abbildungen, Preis 22 Euro |